Wir wissen, wie gut es tut, wenn uns jemand tröstet und aufmuntert. Aber es fällt uns oft schwer, uns selbst gegenüber Mitgefühl zu zeigen. Dabei hat Selbstmitgefühl nichts mit Selbstmitleid oder Egoismus zu tun. Ich möchte dir anhand von zwei Persönlichkeiten zeigen, wie sie Selbstmitgefühl für sich entdeckt haben.
Wellen der Panik überfluteten ihn. Sein Mund war staubtrocken. Alles, was er denken konnte, war: «Oh Gott, ich kann das nicht.» Zwanzig Jahre lang litt der Psychotherapeut Chris Germer unter quälender Redeangst. Schon Tage vor einem Vortrag schlief er schlecht und malte sich aus, was alles Schreckliches passieren würde. Er würde versagen, das Publikum würde ihn auslachen. Ein promovierter Psychologe, der sich sogar auf Angststörungen spezialisiert hat, bekommt seine eigenen Ängste nicht in den Griff - irgendwie peinlich, oder?
Germer hat alles ausprobiert, was der therapeutische Werkzeugkasten hergibt: Entspannungsübungen, Meditation, kognitive Therapie und so weiter. Doch nichts half. Bis er auf die Praxis des Selbstmitgefühls stiess, der liebenden Güte sich selbst gegenüber. Zum ersten Mal empfand er Mitgefühl für den Mann, der unter Sprechangst litt. Das war für ihn der Durchbruch.
Im Nachhinein erkannte er, dass all seine Versuche, die Redeangst zu überwinden, nicht geholfen hatten, weil er nicht primär an einer Angst-, sondern an einer Schamstörung litt. «Ich sah mich durch die Augen der anderen und kam mir dumm und inkompetent vor.» Germer hatte Angst vor Ablehnung und fürchtete sich davor, was andere über ihn denken könnten. Als sich seine Einstellung änderte und er sich selbst mit mehr Mitgefühl begegnen konnte, änderte sich auch sein Schamgefühl.
Wir neigen oft dazu, mit uns selbst zu schimpfen, uns anzuklagen und hart mit uns umzugehen, wenn wir zum Beispiel etwas nicht geschafft haben, eine Verabredung oder eine Beziehung nicht geklappt hat oder wir sonst etwas vermasselt haben. Das kenne ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Dann fällt es uns schwer, liebevoll und barmherzig mit uns selbst umzugehen. Wir wissen zwar, wie gut es tut, wenn ein Freund oder eine Freundin uns tröstet und ermutigt. Aber mit uns selbst tun wir uns schwer.
Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas, gilt als Pionierin auf diesem Forschungsgebiet. Sie forscht seit mehr als 20 Jahren zum Thema Selbstmitgefühl. Sie definiert Selbstmitgefühl als nach innen gerichtetes Mitgefühl. Es bedeutet, sich selbst die Freundlichkeit und Fürsorge entgegenzubringen, die wir unseren besten Freunden entgegenbringen würden. In ihrem Verständnis hat Selbstmitgefühl drei Komponenten:
Was sagt die Bibel dazu? Was rät sie, wie es uns gelingen kann, die eigene Seele, die oft so aufgewühlt, ängstlich und überfordert ist, wieder zur Ruhe zu bringen? Wie können wir mit uns selbst umgehen, wenn wir uns wieder einmal über uns selbst ärgern? Wenn wir an unserem Unvermögen verzweifeln, wenn wir versagt haben oder etwas einfach nicht hinbekommen und wieder in den alten Trott der Selbstvorwürfe verfallen sind? Einen Schlüssel dazu habe ich bei König David gefunden.
David erlebte wohl einen seiner schwierigsten Momente. Als er mit seinen 600 Mitstreitern von einem Kriegszug in seine vorübergehende Heimatstadt Ziklag zurückkehrte, erlebte er eine böse Überraschung. In seiner Abwesenheit war seine Stadt von Feinden überfallen und in Schutt und Asche gelegt worden. Alle Bewohner, auch die Frauen und Kinder Davids und seiner Mitstreiter, waren gefangen genommen und verschleppt worden. Niemand wusste, ob sie noch am Leben waren. David war in einer schrecklichen Lage. Seine Männer, mit denen er jahrelang Seite an Seite gekämpft hatte, waren so aufgebracht, wütend und verzweifelt, dass sie David die Schuld an der Misere gaben. Sie wollten ihn sogar steinigen! Kannst du dir vorstellen, unter welchem Druck David stand? Und wie hat David reagiert, als er so angespannt und gestresst war?
Samuel 30,6 lesen wir: «David aber stärkte sich in dem Herrn, seinem Gott.» (LUT) Diese Formulierung fasziniert mich: Er stärkte sich selbst. Ich stelle mir vor, wie David mit sich und Gott ringt, wie er sich ermutigt, nicht zu verzweifeln, wie er sich daran erinnert, dass Gott bei ihm ist. Er musste sich einreden, dass dies nicht das Ende sein konnte. Er war doch von Gott erwählt. Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf all das, was er schon Grosses mit Gott erlebt und erfahren hatte. So tröstete und ermutigte er sich selbst.
Unter diesem Blickwinkel entfaltet auch Psalm 131 eine ganz neue Kraft. Hier wird noch deutlicher, wie David sich selbst gestärkt und getröstet hat. Er hatte gelernt, in schwierigen Momenten direkt zu seiner Seele zu sprechen und sich so mitfühlend selbst zu trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet. «Wahrlich, ich habe meine Seele getröstet und beruhigt wie ein entwöhntes Kind seine Mutter». (Psalm 131,2; NZB) Psalm 42 gibt uns weitere Hinweise, wie Menschen mit ihrer unruhigen Seele umgehen: «Warum bist du so gebeugt, meine Seele, und so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich will ihn wieder loben, ihn, meinen Helfer und Gott.» (Psalm 42,12; NZB)
Interessant, nicht wahr? Wie David sprechen auch andere Psalmbeter in ihrer Not direkt zu ihrer aufgewühlten Seele, als wäre sie ein Gegenüber. Sie sprechen ihr Mut zu, gehen mit viel Selbstmitgefühl auf sie ein, trösten und ermutigen sie, wie es ein guter Freund oder eine gute Freundin tun würde. Das finde ich faszinierend. Was die moderne, wissenschaftliche Forschung in der Psychologie neu entdeckt hat, wurde schon vor einigen tausend Jahren von führenden Persönlichkeiten der Bibel praktiziert.
Wenn du also wieder einmal hart mit dir ins Gericht gehst und dich nicht leiden kannst, dann betrachte dich ab heute öfter aus der Perspektive Gottes. Er ist liebevoll, gnädig und barmherzig. In 2. Korinther 1 bezeichnet Paulus Gott sogar als Vater aller Barmherzigkeit und Gott allen Trostes. Mit diesem liebenden, tröstenden und gütigen Blick schaut er auch dich an. Kannst du das annehmen? Sieh dich in Zukunft öfter mit diesem barmherzigen Blick an. Denn wenn Gott so mit dir umgeht, warum kämpfst du dann noch mit dir und gegen dich? Wie heisst es doch in Römer 8,1: «Es gibt keine Verdammnis mehr für die, die in Christus Jesus sind». Auch keine Selbstverurteilung. Wir müssen nicht in der Scham- und Schuldfalle stecken bleiben. Erlaube dir also öfter, so mit dir umzugehen, wie Gott es schon tut, mit viel Mitgefühl.
Christoph Hickert ist Dipl. Coach & Supervisor BSO und psychologischer Berater in eigener Beratungs-Praxis in Männedorf am schönen Zürichsee.
Mehr über den Autor